Kürzlich hat der Gemeindetag Baden-Württemberg eine verblüffend einfache und kostenneutrale Strategie vorgestellt, um dem Fachkräftemangel in den Kitas zu begegnen. Statt 28 Kinder sollen nun 30 Kinder von 3-6 Jahren in einer Gruppe mit bis zu 20% weniger Personal betreut werden können.
Hauptsache, möglichst viele Kinder sind untergebracht, unter welchen Umständen das geschieht, scheint erst mal zweitrangig zu sein. Seit mehr als 20 Jahren marschiert unser Kita-System in diese Richtung, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch in den anderen Bundesländern. Immer jüngere Kinder werden immer länger betreut, ohne Personal und Räumlichkeiten an die erforderlichen Aufgaben anzupassen.
„Die Erzieher*innen werden das schon schaffen, irgendwie haben sie es bisher doch immer möglich gemacht. Auf ein paar Kinder mehr in diesen sowieso großen Kindergruppen kommt es doch nun auch nicht mehr an. Und wenn man ein paar Tische mehr in die Räume quetscht, können alle problemlos zum Essen bleiben,“ solche Worte hört so manche Kita-Fachkraft von Verantwortungsträgern.
Eines wird bei all diesen Überlegungen gern vergessen. Die Grenzen der Aufsichtspflicht kann kein Ministerium, kein Jugendamt oder Träger und auch nicht der Gemeindetag definieren.
Aussagen wie: „Das muss jetzt auch mal so gehen, Augen zu und durch“ oder „da gewöhnen sich die Kinder schon dran“ haben keinerlei rechtliche, pädagogische oder entwicklungspsychologische Grundlage.
Jede Fachkraft in der Kita vor Ort hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dort die Grenze zu setzen, wo sie den Bedürfnissen der Kinder nicht mehr gerecht werden kann oder die Aufsicht nicht mehr gewährleisten kann. Ausschlaggebend ist immer die konkrete Betreuungssituation, die Anzahl der Kinder und ihr Alter, aber auch die Persönlichkeit des einzelnen Kindes.
Kita-Fachkräfte stehen in der Verantwortung, keine prekären Betreuungssituationen mitzutragen. Sie müssen leider oft erst noch lernen, sich nicht dem Druck, den Kita-Akteure ihnen machen, zu beugen.
Nein, es ist nicht ok, ab und zu mal die Aufsichtspflicht zu verletzen, weil Personal ausfällt oder Stellen vakant sind. Sollte etwas passieren und ein Kind zu Schaden kommen, wird nicht der Städte- und Gemeindebund zur Rechenschaft gezogen, sondern die Fachkraft, die keine verantwortungsvolle Betreuung gewährleistet hat.
Wir werden die strukturellen Probleme des Kita-Systems nicht lösen können, indem wir die Standards, die bereits weitab der Empfehlungen der Fachleute liegen, weiter absenken.
Die Lage in vielen Kitas ist so angespannt, dass bei Personalausfällen sehr schnell das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Nicht nur Fachkräfte, auch Vertretungskräfte sind Mangelware. In vollen Kitas mit großen Gruppen und wenig Personal bleibt so gut wie kein Spielraum, Gruppen zusammenzulegen oder Kinder aufzuteilen. Damit bei Personalausfällen das vorhanden Personal die Kinder noch in verantwortbarer Weise beaufsichtigen kann, muss Personal zusammengezogen werden. Das bringt automatisch eine Kürzung der Öffnungszeiten mit sich, weil dann für die Randzeiten kaum noch Kräfte zur Verfügung stehen.
Je schlechter der Personalschlüssel, desto weniger verlässlich die systemrelevante Kinderbetreuung. Das ist die Realität, die sich nicht schönrechnen lässt, indem man Standards noch weiter absenkt.
Auch in Rheinland-Pfalz entsteht durch den Rechtsanspruch auf durchgehende siebenstündige Betreuung für alle Kinder diese Problematik. Fällt Personal aus, muss das verbleibende Personal in der Mittagszeit einspringen.
Nein, es ist im Sinne der Kinder nicht verantwortbar, dass beispielsweise zwei Erzieher*innen mit 25 Kindern (inklusive U3 Kindern) zu Mittag essen oder dass eine Kraft dies vielleicht auch mal ganz allein schafften soll. Es ist auch nicht in Ordnung, wenn Fachkräfte auf ihre gesetzlich vorgeschriebenen Pausenzeiten verzichten, um die durchgehende Betreuung aller Kinder zu gewährleisten.
Fällt jemand aus, muss deshalb Personal, das für den Morgen oder Nachmittag vorgesehen war, über Mittag einspringen und fehlt dann natürlich zu den anderen Zeiten.
Wir haben bis jetzt nur über Betreuung und Beaufsichtigung gesprochen. Was ist mit dem Anspruch an gute frühkindliche Bildung, notwendige Förderung und das Eingehen auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder?
Auch das sind drängende Themen, über die Fachkräfte, Eltern, Träger, Jugendämter, Land und Bund und somit unsere ganze Gesellschaft sprechen muss, weil Kinder unsere Zukunft sind.