Populismus-Strategien in der Kita-Welt

Die Kita-Krise macht eine sachliche und fachliche Auseinandersetzung nicht gerade einfacher. Verschiedene Interessen, Meinungen und Gegebenheiten prallen in einer Zeit knapper Ressourcen aufeinander und führen schnell zu Diskussionen, in denen nicht sachlich, sondern populistisch argumentiert wird.

Wenn Leitungen und Fachkräfte versuchen, über Missstände und Probleme ins Gespräch zu kommen, begegnen Ihnen nicht selten die gleichen Populismus-Strategien wie in anderen politischen Zusammenhängen.

Dieser Artikel zeigt beispielhaft auf, welchen populistischen Argumenten Kita-Fachkräfte in Diskussionen und Gesprächen gegenüberstehen und wie sie ihnen begegnen können.

Unter https://populismus.online/ haben wir kompakte Definitionen für fünf gängige Populismusstrategien gefunden:

1. Appell an die »schweigende Mehrheit«

    Populisten unterstellen, dass es eine schweigende Mehrheit gibt, die von der Politik nicht gehört wird. Die einzigen, die die Interessen der vermeintlichen Mehrheit angeblich kennen und vertreten können, sind (natürlich) die Populisten selbst.

    Beispiel:

    • Außer Ihnen hat sich noch niemand beschwert.
    • Die anderen Kitas (oder Fachkräfte) bekommen das hin.
    • Es handelt sich lediglich um bedauerliche Einzelfälle.
    • Ihre Kritik ist überzogen, denn wir bekommen ansonsten sehr viele positive Rückmeldungen.
    • Die meisten Kitas (von unserem Träger, in unserer Kommune, in unserem Bundesland) sind mit den Rahmenbedingungen zufrieden und vorbildliche frühpädagogische Bildungseinrichtungen.

    Erwiderungen:

    • Auch wenn ich die/der Erste bin, die/der sich beschwert, kann meine Kritik berechtigt sein. Was sagen Sie zu meinen fachlichen und sachlichen Argumenten oder meiner konkreten Schilderung des Problems?
    • Ich möchte dazulernen und besuche gern mit Ihnen eine Kita, von der Sie sagen, dass es dort sehr gut läuft. Dort können wir uns die Faktoren anschauen, die zum Gelingen beitragen.
    • Es ist meine Pflicht als Kita-Fachkraft, Missstände und Gefährdungen zu melden und anzusprechen, bzw. Feedback darüber zu geben, was im Alltag gelingt und wo es Probleme gibt.
    • Jede einzelne Einrichtung, in der es nicht gut läuft, ist im Sinne der Kinder nicht hinnehmbar. Lassen Sie uns deshalb über die konkreten Probleme vor Ort sprechen und nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen.
    • Sie sagen, die Rahmenbedingungen seien gut. Auf welchen fachlichen Grundlagen basiert Ihre Annahme? Können Sie mir wissenschaftliche oder fachliche Quellen nennen, die Ihre Thesen bestätigen?

    2. Ad-hominem-Attacke (aka gegen den Menschen)

      Statt sachlich zu argumentieren, greifen Populisten persönlich an. Es geht nicht darum, WAS gesagt wird, sondern WER es sagt! Dahinter steckt der Versuch, dem Gegenüber die Glaubwürdigkeit abzusprechen.

      Beispiele:

      • Als Berufsanfängerin/Teilzeitkraft/alte Erzieherin usw. können Sie das nicht beurteilen bzw. fehlt Ihnen die fachliche Kompetenz.
      • Sie scheinen nicht belastbar zu sein, ansonsten würden sie das hinbekommen.
      • Sie müssen an Ihrer Haltung arbeiten. Mit der richtigen inneren Haltung lösen Sie alle Probleme.
      • Machen Sie erst mal eine Diät und nehmen ab, bevor Sie mit mir über Pädagogik diskutieren.
      • Mit Ihnen als Vegetarier/ Anhänger dieser Religion (Konfession)/ Weltanschauung usw. diskutiere ich grundsätzlich nicht.
      • Bekommen Sie erst mal selbst Kinder, dann reden wir weiter.
      • Der Kinderarzt ist anderer Meinung. Der versteht ja wohl mehr von Kindern als eine Erzieherin.
      • Wenn Sie als Leitung Ihren Job richtig und engagiert machen würden, liefe es in der Kita. Ihre Vorgängerin hat das alles gut geschafft.

      Die Kehrseite der Ad-hominem-Attacke könnte man als Pro-hominem-Dusche bezeichnen. Hier wird sachliche Kritik mit Lobhudelei vom Tisch gewischt.

      Beispiele:

      • Wir wissen, welch wertvolle und pädagogisch hervorragende Arbeit Sie leisten.
      • Es sind schwierige Zeiten. Ohne unsere tollen Fachkräfte, die das Unmögliche möglich machen, hätten wir die Kita schon schließen müssen.
      • Ich bin sicher, dass Sie die Kinder trotz Personalmangel und unzureichenden Räumlichkeiten optimal begleiten und fördern.
      • Sie sind eine wunderbare Erzieherin mit einem ganz großen Herzen. Deshalb schaffen Sie das.

      Erwiderungen:

      • Es geht hier nicht um mein(e) Person /Berufserfahrung, Gewicht, Privatleben/ Befindlichkeit, Religion, Konfession, Essverhalten oder Weltanschauung, sondern um eine fachliche Perspektive und Einschätzung. Lassen Sie uns darüber sprechen.
      • Ich liebe meinen Beruf und möchte hervorragende Arbeit machen. Deshalb müssen wir darüber diskutieren, welche Ressourcen für eine gute pädagogische Arbeit notwendig sind und was unter den aktuellen Gegebenheiten machbar ist bzw. wo die Grenzen des Verantwortbaren verlaufen.

      3. Falsche Dichotomie/falsches Dilemma

        Populisten stellen Streitfragen so dar, als gäbe es dazu nur zwei gegensätzliche Positionen – von der eine besonders abwegig erscheint. So zwingen sie die Gegenseite zu einer Wahl zwischen zwei konstruierten Extremen, statt über die vielen Möglichkeiten dazwischen zu diskutieren.

        Beispiele:                     

        • Wenn Sie die Kita nicht überbelegen oder Betreuungszeiten kürzen, sind Sie dafür verantwortlich, dass Familien ins Elend gestürzt werden.
        • Wenn die Eingewöhnungszeit so lang dauert, verliere ich meinen Job.
        • Besser eine schlechte Kita-Betreuung, als dass Kinder aus schwierigen Verhältnissen keinen Platz bekommen und zu Hause gefährdet werden.
        • Wollen Sie vielleicht, dass Mütter wieder zuhause bleiben und an den Herd verbannt werden, weil sie keinen Kita-Platz bekommen?
        • Haben Sie kein Herz für Kinder mit Behinderungen? Sind Sie gegen Inklusion?
        • Haben Sie kein Vertrauen in uns und unsere Professionalität? Trauen Sie uns nicht zu, dass wir gute und richtige Entscheidungen treffen?

        Erwiderungen:

        • Als Fachkraft/Leitung bin ich zuerst dafür verantwortlich, dass es den Kindern in der Kita gutgeht bzw. dass Aufsichtspflicht und Kindeswohl gewährleistet werden können. Es ist Aufgabe des zuständigen Jugendamtes, ein bedarfsgerechtes Platzangebot zu schaffen sowie der Träger, genügend Ausbildungsplätze in den Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Es ist wiederum Aufgabe des Landes, für genügend Ausbildungskapazitäten zu sorgen. Wenn Familien aufgrund mangelhafter Bedarfsplanung und Kita-Politik keinen Platz finden, ist nicht die Kita vor Ort verantwortlich.
        • In Zeiten knapper Ressourcen müssen wir darüber ehrlich sprechen, was aktuell leistbar ist bzw. wo Einschränkungen möglich sind, aber auch darüber, was im Sinne der Kinder unverzichtbar ist.
        • Sie wurden bei der Anmeldung Ihres Kindes darüber unterrichtet, wie viel Zeit Sie für die Eingewöhnung einplanen müssen. Wir können uns nicht über kindliche Grundbedürfnisse hinwegsetzen. Wenn es Ihnen nicht möglich ist, die Eingewöhnung weiter zu begleiten, müssen Sie überlegen, wer das aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis übernehmen könnte. Wichtig ist, dass wir Ihrem Kind die notwendige Zeit geben, um den Kita-Alltag gut bewältigen zu können.
        • Die Institution Kita ist nach SGBVIII verpflichtet, jedem Kind eine seinem Entwicklungsstand angemessene Betreuung, Bildung und Förderung zu bieten. Dass es Kindern zuhause schlecht geht, rechtfertigt nicht, prekäre Verhältnisse in der öffentlichen Institution Kita zuzulassen.
        • Es ist Aufgabe der Politik, ein ausreichendes Kita-Platzangebot in kindgerechter Qualität zu schaffen. Dort liegt die Verantwortung, gute Rahmenbedingungen für ein gleichberechtigtes Familien- und Erwerbsleben zu schaffen. Die Kita vor Ort kann nicht die gesellschaftlichen Versäumnisse dadurch auffangen, dass sie Kinder unter prekären Bedingungen betreut.
        • Inklusives Arbeiten braucht inklusive Bedingungen. Wenn Sie dem betreffenden Kind die Teilhabeleistungen gewähren, die notwendig sind, damit es sich in unserer Kita gut entwickeln kann, arbeiten wir sehr gern inklusiv. Lassen Sie uns konkret besprechen, welche Maßnahmen für das Kind erforderlich sind, damit es in der Kita gut zurechtkommt.
        • Weil ich weiß, dass Sie den Anspruch haben, professionell zu arbeiten, möchte ich mit Ihnen über die fachlichen Grundlagen diskutieren. Worauf gründen Ihre Entscheidungen und nach welchen Kriterien gehen Sie vor?

        4. Strohmann-Argument

        Statt gegen das tatsächliche Argument der Gegenseite zu diskutieren, unterstellen Populisten ihr ein Argument, das leichter zu widerlegen ist. Sie kämpfen also gegen einen Strohmann, einen erfundenen Gegner, der leichter zu besiegen ist.

        Beispiel:

        Argument:

        • Die Personalschlüssel für 2–6-Jährige liegen in unserem Bundesland weit von fachlichen Mindestanforderungen entfernt (Siehe Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2023). Damit sind gute frühpädagogische Bildung und Förderung nur eingeschränkt leistbar. Wir müssen die unzureichenden Betreuungsschlüssel für diese Altersgruppe verbessern.

        Strohmann-Argumente:

        • Wenn ich Kitas besuche, erlebe ich dort beste Bildung und Förderung. Kürzlich war ich sogar in einer Kita, die mit den Kindern schwimmen geht.
        • Mein Enkel wurde in seiner Kita hervorragend gefördert und schreibt jetzt nur beste Noten in der Schule.
        • Wir haben in RLP wesentlich bessere Personalschlüssel als in den östlichen Bundesländern.
        • Die Personalschlüssel für unter zweijährige Kinder liegen nah bei den wissenschaftlichen Empfehlungen.

        Erwiderungen:

        • Ich möchte über die fachlichen Grundlagen und wissenschaftlichen Erkenntnisse diskutieren, nicht über anekdotische Erlebnisse, für die sich immer positive und negative Beispiele finden lassen.
        • Wenn Sie persönlich andere Erfahrungen gemacht haben, sagt das nichts über die gesamte Problematik aus. Lassen Sie uns über wissenschaftliche Quellen, entwicklungspsychologische Erkenntnisse und aktuelle Studien sprechen.
        • Dass die Personalschlüssel in den östlichen Bundesländern schlechter als in RLP sind, sagt nichts darüber aus, welche Personalschlüssel notwendig sind, um einen entwicklungsförderlichen Kita-Alltag zu gewährleisten. Was sagen Sie dazu, dass RLP unter den westdeutschen Ländern auf dem zweitletzten Platz liegt?
        • Ich habe nicht die Personalschlüssel für Kinder unter zwei Jahren angesprochen, sondern möchte über die Personalisierung für die Altersgruppe 2-6 Jahre sprechen.

        5. Motte-and-Bailey-Argument

        Stoßen Populisten mit einer besonders kontroversen Aussage auf Kritik, schwächen sie ihr Argument so sehr ab, dass es einfacher zu verteidigen ist. So erscheint auch die ursprüngliche Aussage schwerer angreifbar. Die Metapher: Auf dem Burghof (Bailey) darf man schon mal eine große Klappe riskieren, bei Gegenwehr kann man sich ja auf den sicheren Turm (Motte) zurückziehen.

        Beispiel für eine Motte- and-Bailey-Diskussion:

        • Person A: „Um auf Kinder aufzupassen und ein bisschen mit ihnen im Sand zu buddeln, braucht es keine Ausbildung. Das kann jeder Teenager.“
        • Person B: „Die ersten Lebensjahre sind die prägendsten. Es ist wichtig, hier Kinder fachlich kompetent zu in ihrer Entwicklung zu begleiten. Dafür braucht es eine gute Ausbildung.“
        • Person A: „Ich wollte ja nur sagen, dass in der Kita mehr spielerisch gelernt wird. Und wie man mit Kindern spielt, weiß ja jeder, der selbst mal Kind war.“
        • Person B: „In den ersten Lebensjahren lernen Kinder im und durch Spiel. Wer gern zuhause mit ein oder zwei Kindern spielt, hat noch lange nicht gelernt, große sehr heterogene Kindergruppen zu beaufsichtigen und gut pädagogisch zu begleiten. Deshalb durchlaufen Erzieher*innen eine anspruchsvolle je nach Bundesland 4- oder 5-jährige Ausbildung. Es gibt auch Studiengänge im frühpädagogischen Bereich.“

        Souveränität im Umgang mit Populismusstrategien zeigt sich darin, dass nicht auf gleichem populistischem Niveau zurückgeschossen und diskutiert wird, sondern immer wieder beharrlich auf Fakten, fachliche Grundlagen und Erkenntnisse sowie die jeweiligen Verantwortlichkeiten verwiesen wird. Außerdem ist es wichtig, konkrete Lösungsvorschläge zu machen, bzw. klar die Grenzen des Leistbaren aufzuzeigen.

        Eine demokratische Diskussions- und Streitkultur ist ein kontinuierliches Übungsfeld. Hitzige Debatten oder unschöne Gespräche sind kein Grund aufzugeben und sich in den Schmollwinkel oder eine Opferhaltung zu begeben. Es ist immer möglich, den Faden wieder aufzunehmen bzw. auch mal die Scherben zusammenzukehren, und um weitere Gespräche zu bitten. Umso besser man sein Gegenüber kennt, desto leichter wird es, fachlich versiert zu argumentieren und Populismusstrategien zu entlarven.

        Es ist nicht schwer, über pädagogische Kita-Qualität zu diskutieren, denn Wissenschaft und Fachpraxis sind sich sehr einig darin, welche Rahmenbedingungen notwendig wären, um entwicklungsförderliche Bedingungen in unseren Kitas zu schaffen. In der Fachwelt gibt es in Bezug auf das Thema so gut wie keine Kontroversen. Kompakt zusammengefasst und gut lesbar finden sich die wichtigsten frühpädagogischen Erkenntnisse und Forderungen in dem kürzlich erschienen Buch: „Die gute Kita-Handlungsempfehlungen für die Frühpädagogik.“

        Autorin: Claudia Theobald im Mai 2024

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